Ein Ton sagt mehr als 1000 Worte: Daniel Neumann über das Widderhorn, dass nicht nur an Rosh Hashana geblasen wird
Der Monat Elul hat begonnen. In weniger als vier Wochen werden wir auf der ganzen Welt Rosch Haschana feiern. Wobei dieses Fest, das in diesem Jahr am Abend des 6. September beginnt, mehr ist als nur ein Jahreswechsel, mehr als ein kalendarischer Ziffernsprung. Es ist die Zeit des Jahres, in der wir Bilanz ziehen und die wir mit der Hoffnung auf Glück, Erfolg, Wohlergehen und vor allem Gesundheit füllen.
Eine Zeit der Selbstreflexion, die im besten Fall schon an Rosch Chodesch Elul (in diesem Jahr am 9. August) ihren Anfang genommen hat. Dabei werden drei Eigenschaften des Monats Elul in der Liturgie des Neujahrsgebetes besonders betont: »uTschuwa uTfila uZdaka maawirin et roa hagsera – und Rückkehr, Gebet und Wohltätigkeit wenden das böse Verhängnis ab«.
Bewusstsein Wir bewegen uns also direkt auf eine kritische Bestandsaufnahme zu. Auf eine Zeit, die in dem Bewusstsein begangen werden soll, dass bald die g’ttlichen Entscheidungen über unsere nähere Zukunft fallen. Entscheidungen, die nach einer Periode von zehn Tagen zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur, dem höchsten Feiertag, endgültig und unwiderruflich besiegelt werden.
Zugegeben: Mittlerweile fehlen immer mehr Menschen die Antennen für den Empfang religiöser Inhalte, stellen sie sich taub für die Sprache unserer Tradition. Und sie lassen den Willen vermissen, die Melodien des Judentums zu erkennen und die Symphonie G’ttes zu erfassen.
Und doch ist an den bald bevorstehenden Tagen des jüdischen Jahres etwas anders, stechen die Hohen Feiertage nicht nur wegen der ausgedehnten G’ttesdienste und des besonders festlichen Essens heraus.
Atmosphäre Auch manch ein Religionsverweigerer lässt sich hin und wieder von der besonderen Atmosphäre des Festes oder zumindest von dem guten Essen überzeugen. Aber da ist noch etwas, was diese Feiertage so besonders macht. Ein besonderer Brauch, ein spezielles Ritual: nämlich das Blasen des Schofars.
Der Schofar, ein Widderhorn, ist mal klein und kurz, mal ausladend und imposant. Mal eher gerade und mal stark geschwungen. Und in dieses Widderhorn wird mit einer speziellen Technik hineingeblasen, sodass unnachahmliche Klänge entstehen.
Dabei ist der Schofar sicher einer der ungewöhnlichsten rituellen Gegenstände. Einer, dem immer noch die Aura des Urtümlichen anhaftet. Und der in einer Zeit rasanter technischer Fortschritte wie ein archaisches Relikt aus längst vergessenen Zeiten erscheint.
Und obwohl der Klang des Schofars für viele von uns ein Synonym für die Hohen Feiertage ist, wird er bei aschkenasischen Juden nicht nur am ersten Tag von Rosch Haschana und zum Ausgang von Jom Kippur, sondern einen ganzen Monat lang geblasen: im Elul.
Wenn zwei das Gleiche tun, ist es allerdings noch lange nicht dasselbe. Sprich: Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Spielarten des Schofarblasens im Monat Elul und an Rosch Haschana. Dieser liegt in der Bewertung des Tuns. Das regelmäßige Blasen am Ende des G’ttesdienstes im Monat Elul ist nämlich ein Brauch. Der Klang des Schofars, der ab Beginn des Monats an den Werktagen ertönt, soll die Herzen aufrütteln und uns die gewohnte Ruhe des Alltags rauben.
Gebot An den Hohen Feiertagen hingegen haben wir es mit einem eindeutigen biblischen Gebot zu tun. Denn im 4. Buch Mose heißt es: »Und der siebente Monat, am ersten Tag, soll euch heilige Berufung sein … ein Tag des Posaunenschalls soll er für euch sein« (29,1). Und im 3. Buch Mose heißt es: »Dann sollst du Posaunenschall ergehen lassen, im siebten Monat am zehnten Tag des Monats« (25,9).Und es gibt noch einen banalen Unterschied: Schließlich kommen auch im Elul meist nur wenige Juden zum alltäglichen G’ttesdienst, während die Synagogen an den Hohen Feiertagen gut gefüllt sind.
Warum aber wird der Schofar überhaupt geblasen? Was ist der Sinn dieses Rituals? Der israelische Literaturnobelpreisträger Schmuel Agnon hat fünf Gründe dafür in seinem Buch Tage der Ehrfurcht aufgezählt und dabei den Weisen Saadia Gaon zitiert: Erstens blasen wir den Schofar an Rosch Haschana, weil dieser Feiertag den Beginn der Schöpfung markiert. Also den Tag, an dem G’tt die Welt schuf und über sie herrschte. Ganz so wie Könige den Trompetenschall hören lassen, damit ein jeder höre und wisse, dass der Jahrestag ihrer Regentschaft angebrochen ist. Und eben deshalb hören auch wir den Schofar zur Erinnerung an die Erschaffung der Welt und bekunden dadurch unser Anerkenntnis des Ewigen als unumschränkten Schöpfer und Herrscher.
Zweitens blasen wir den Schofar zu Rosch Haschana, weil dies den Beginn der zehn Tage der Umkehr markiert. Wir hören das Widderhorn also als Zeichen des Auftakts der Ehrfurcht gebietenden Tage. Als Erinnerung an alle, die den aufrichtigen Wunsch zur Umkehr haben, nun schleunigst damit zu beginnen.
Bund Drittens blasen wir den Schofar als Erinnerung an den Bund, den G’tt mit unseren Vorvätern Awraham und Jizchak einging. Also den Bund, der geschlossen wurde, als Awraham seinen Sohn Jizchak auf g’ttliches Geheiß zu opfern bereit war. Und den Bund, in den wir als nachfolgende Generationen alle eingeschlossen sind.
Viertens blasen wir den Schofar in Erinnerung an die Offenbarung am Berg Sinai. Im 2. Buch Mose heißt es: »Und der Posaunenschall wurde immer mächtiger und mächtiger. Mosche redete, und G’tt antwortete ihm im Schall« (19,19). Damit verbunden ist die Erinnerung an das unbedingte Bekenntnis unserer Vorväter, die nach der Offenbarung einmütig erklärten: »Wir wollen tun und hören, was der Ewige gesagt hat« (2. Buch Mose 24,7).
Und fünftens blasen wir den Schofar schließlich als Symbol unserer Sehnsucht nach der Vereinigung der in alle Welt zerstreuten Juden, so wie es bei dem Propheten Jesaja heißt: »Und es wird der Tag kommen, da der Schall eines großen Horns zu hören sein wird. Und alle werden zurückkommen, die da verloren waren in dem Land der Assyrer und verstoßen im Land Ägypten« (27,13).
Zusammenfassend ging es dem Weisen Saadia Gaon also darum, unsere Aufmerksamkeit auf die großen Pinselstriche unserer Existenz zu richten, die zusammengenommen unser ganzes Leben zum Inhalt haben: vom Anfang bis zum Ende, von Zeit und Raum, mit allen dramatischen und geheimnisvollen Ereignissen unserer Entwicklung. Der Klang des Schofars lehrt uns Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und macht uns empfänglich für unsere Rolle in der Geschichte und unseren Platz im Universum.
Daneben gibt es noch eine Reihe anderer Erklärungen für den Gebrauch dieses besonderen Instruments. Etwa jene, wonach mit lautem Klang die seit Jahrtausenden ersehnte Ankunft des Messias angekündigt wird, auf den wir ja noch immer warten. Vergeblich bislang, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Leere Wie dem auch sei: Das Judentum ist eine Religion der Inhalte, nicht des unreflektierten Brauchtums. Also eines Brauchtums nur um des Brauchtums willen. Dies wird schon mit Blick auf die sprachliche Wurzel des Wortes Schofar deutlich, das vom Stamm des Wortes »Aushöhlung« herrührt. Der Schofar ist also ein ausgehöhltes, leeres Instrument, das erst in dem Augenblick seine Kraft verliehen bekommt, da menschlicher Atem es zum Leben erweckt.
Erst dann wird das leere Widderhorn zu einem bedeutsamen Gegenstand, der fähig ist, ganze Welten zu bewegen. Und genau so sollen die Menschen sich selbst verstehen, gerade an Rosch Haschana: als einen leeren Gegenstand, der erst vom Schöpfer erweckt wird, der erst vom Ewigen mit Leben gefüllt wird – um dann seine eigentliche Bestimmung zu erfahren und dieser zu folgen.
Eines jedenfalls steht fest: Gleich ob man nun über die notwendigen Antennen verfügt, religiöse Inhalte zu empfangen, oder ob man für diese Melodien einfach taub ist – der Klang des Schofars kann diese Unfähigkeit durchbrechen, kann diesen Unwillen überwinden.
Es ist ein dermaßen eindringlicher, markerschütternder Laut, dass selbst ein religiöser Analphabet nicht unbeeindruckt bleiben kann. Ein Klang, der aufrüttelt, alarmiert, verunsichert. Es ist ein Ton aus den Anfängen der jüdischen Geschichte. Aus den Tiefen unserer Zeit. Ein Ton, der die Jahrtausende überdauert hat und uns mit all den Generationen verbindet, die vor uns da waren.
Und manchmal, ja manchmal sagt solch ein Ton mehr als 1000 Worte.
Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.