28.07.2020

Direktor der Jüdischen Gemeinden beklagt mangelnden Rückhalt in der Gesellschaft

Darmstadt

© Renate Hoyer
© Renate Hoyer

Daniel Neumann, der Direktor der Jüdischen Gemeinden in Hessen, spricht im Interview über das Leben mit Antisemitismus und den mangelnden Rückhalt aus Politik und Gesellschaft.

Herr Neumann, sind Sie manchmal mit der Kippa auf dem Kopf unterwegs?

Nein, überhaupt nicht. Nur während des Gottesdienstes in der Synagoge, während des Thora-Lernens oder auf dem Friedhof.

Kann man sich als Jude in Hessen frei und unbefangen in der Öffentlichkeit bewegen?

Solange Sie nicht als Jude erkennbar sind, können Sie sich ungefährdet bewegen.

Und anderenfalls?

Anderenfalls müssen Sie mit dem Risiko leben, dass Sie angefeindet, beleidigt oder attackiert werden. Nicht überall und nicht jederzeit, aber in bestimmten Gegenden durchaus.

Wie gehen Sie und die jüdische Gemeinde mit dieser Situation um?

Es ist eine belastende Situation, die uns allen zu schaffen macht. Auf der anderen Seite haben wir das Glück, dass wir Juden in der Öffentlichkeit in der Regel nicht als Juden erkennbar sind. Da geht es Menschen mit einer anderen Hautfarbe anders. Wir können uns zur Not verstecken, wenn wir das Risiko von Übergriffen nicht eingehen wollen. Es ist eine Situation, die einen traurig macht und die es zu beheben gilt. Aber mit dieser Situation leben wir schon eine ziemlich lange Zeit. In dieser langen Zeit ist die Hoffnung geschwunden, dass sich das bessert.

Seit mehreren Wochen machen rechtsextreme Drohschreiben unter dem Kürzel „NSU 2.0“ Schlagzeilen. Solche Drohungen sind für Sie vermutlich schon lange Alltag. Oder hat sich auch für Sie etwas verändert?

Drohschreiben und Drohanrufe sind in der jüdischen Welt bekannt. Es hat sich nur verändert, dass sie sich häufiger direkt an den Zentralrat der Juden richten und seltener an die Gemeindevorstände oder bekannte jüdische Personen.

Seit zwei Jahren gibt es in Hessen einen Antisemitismusbeauftragten. Haben Sie dadurch einen besseren Zugang zur Politik?

Die Politik war für uns in Hessen stets ansprechbar und wir haben dort immer ein offenes Ohr gefunden. Der Antisemitismusbeauftragte ist eher dafür da, die Gesellschaft wachzurütteln und politische Institutionen zu verzahnen, damit alle erkennen, wie dringend das Problem gelöst werden muss. Mit Uwe Becker ist ein guter Mann gewählt worden. Er ist aktiv, er ist in der Materie drin und ich habe das Gefühl, dass er seine Aufgabe gut wahrnimmt. Ob das am Ende die Ergebnisse zeitigt, die wir uns erhoffen, ist eine andere Frage. Man kann nicht davon ausgehen, dass mit der Einsetzung eines Antisemitismusbeauftragten auf einmal das Problem behoben ist.

Uwe Becker verbindet den Kampf gegen Antisemitismus damit, dass er sich vor Israel und die israelische Politik stellt. Damit eckt er bei manchen Gruppen an. Wie sehen Sie das Verhältnis von Antisemitismus-Bekämpfung und Israel-Freundlichkeit?

Wir haben als Landesverband der jüdischen Gemeinden keine offizielle Position. Aber als Privatperson und Jude habe ich natürlich eine Meinung. Die lautet: unbedingte Solidarität und Verteidigungsbereitschaft für Israel, ganz egal, wer da gerade führender Politiker ist. Wir Juden in Deutschland betrachten Israel nach wie vor als unseren Zufluchtsort.

Tut Hessen genug gegen Hass und Hetze?

Angesichts der Tatsache, dass wir es gerade mit „NSU 2.0“ zu tun haben, dass wir es vorher mit „NSU 1.0“ zu tun hatten und angesichts der Tatsache, dass wir von Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus nicht verschont sind, würde ich sagen: nein.

Was müsste geschehen?

Es reicht nicht, dass man an Gedenktagen große Worte schwingt. Man hat oft das Gefühl, dass das Wallungen sind, die als politisches Pflichtprogramm absolviert werden und in dem Moment vergessen sind, in dem die Gedenkveranstaltung vorbei ist. Man muss im Bildungsbereich mehr tun. Die Frage, wie jüdisches Leben in Deutschland stattfindet oder welche Beiträge jüdische Menschen zu Politik, Kultur und Gesellschaft geleistet haben, wird selten gestellt. Gedenkstättenbesuche sind wichtig. Aber es darf sich nicht darauf beschränken. Es muss beleuchtet werden, welche Mechanismen damals gewirkt haben und wie sich ähnliche Mechanismen auch in anderen weltweiten Konflikten zeigen. Damit kann man auch die Brücke zu Menschen mit Migrationshintergrund schlagen, die vielleicht eine andere Ansprache brauchen, indem ihre eigene Lebenserfahrung mit eingebracht wird.

Bekommen Sie denn genug Rückhalt aus Politik und Gesellschaft?

Nein. Das ist ganz besonders während des Gaza-Kriegs im Jahr 2014 aufgefallen, als wir deutschlandweit teils hoch aggressive Demonstrationen gesehen haben. Es gab zwar einen Aufschrei in Medien und Politik. Die Gesellschaft hat aber geschlafen. Bei der Solidaritäts-Demonstration in Berlin, die vom Zentralrat organisiert werden musste, hat man dann 5000 Besucher gezählt. Mehr als die Hälfte kam aus der jüdischen Gemeinschaft selbst. Es war ein erschreckendes Armutszeugnis zu sehen, dass die Gesellschaft überhaupt nicht wahrnimmt, wie bedroht die jüdische Gemeinschaft sich in dieser Situation fühlt. Es hätte so gut getan, wenn man hier und da ein bisschen Zuspruch erhalten hätte.

Ein Bildungsdefizit gab es offenbar bei der Polizei in Sachsen-Anhalt, die nicht wusste, dass die jüdische Gemeinde ihren Feiertag Jom Kippur feierte – an dem Tag, an dem im vergangenen Jahr der Anschlag auf die ungeschützte Synagoge von Halle verübt wurde. Funktioniert das in Hessen besser?

Ich behaupte mal, dass die Hessen da besser aufgestellt sind. Es gibt sicherlich einiges, was man an der hessischen Polizei kritisieren kann. Die Drohmail-Affäre zeigt das gerade. Aber auf der anderen Seite haben wir eine gute Zusammenarbeit mit der Polizei. Wir fühlen uns dort in aller Regel gut aufgehoben.

Wie wichtig ist die Interessenvertretung durch den Zentralrat der Juden, der vor 70 Jahren gegründet wurde?

Sehr wichtig, wobei er seine Rolle verändert hat. Am Anfang war er eher eine Ausreisehilfsanstalt mit dem Ziel, Juden zu ermöglichen, möglichst schnell aus Deutschland zu verschwinden und ihre gepackten Koffer mitzunehmen. Man hat sich nicht vorstellen können, dass Juden auf längere Zeit in Deutschland würden leben wollen, nach dem, was passiert ist. Dann wurde er zunehmend zu einer politisch wahrnehmbaren Stimme in der Öffentlichkeit, zu einem Kämpfer gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und andere Formen von Menschenfeindlichkeit. Er ist auch zu einem Beförderer jüdischen Lebens geworden, etwa durch den Bau der Jüdischen Akademie, die in Frankfurt in Planung ist.

Ihre Familie übernimmt schon lange Verantwortung in der jüdischen Gemeinde in Deutschland. Gab es die Diskussion auch in Ihrer Familie, ob man in Deutschland bleiben kann?

Mein Großvater ist aus Frankreich mit De Gaulles Truppen zurückgekommen, nachdem er in der Fremdenlegion war. Meine Großmutter ist aus Auschwitz gekommen. Sie haben sich in Fulda kennengelernt und entschieden schließlich zu bleiben. Mein Großvater wollte, dass einige Anständige da sind, die Deutschland aufbauen. Die Diskussion hat es auch in der Generation meines Vaters wieder gegeben. Immer dann, wenn es mal wieder rechtsextremistische Übergriffe gab, immer dann, wenn die Drohanrufe zu häufig waren oder man vor unserem Haus Müllsäcke angesteckt und Nazilieder gesungen hat, hat man sich gefragt: Will man sich und seinen Kindern ein Leben in Deutschland wirklich zumuten? Letztendlich sind wir doch geblieben. Die Entscheidung ist für Deutschland gefallen, aber sie ist immer mit einem gewissen Zweifel versehen. Ich für mich kann sagen, dass ich mir wenig anderes vorstellen kann. Ich bin hier groß geworden, ich mag meine Stadt, ich mag die meisten Menschen, mit denen ich es zu tun habe. Ich bin nicht blauäugig, aber ich habe mir einen Rest an Hoffnung bewahrt, dass wir die Situation in den Griff kriegen.

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