Wo bleibt die Zuversicht? Daniel Neumann darüber, dass wir trotz Leid und Ungerechtigkeit in der besten aller Welten leben
So wie bei der Verabschiedung einer befreundeten Dekanin, die nach vielen Jahrzehnten in den Ruhestand ging und zu deren Ehren ein G’ttesdienst und ein kleiner Empfang stattfanden. Anders als erwartet, waren es allerdings eher ernüchternde Überraschungen.
Mit der Örtlichkeit hatte das ebenso wenig zu tun wie mit dem G’ttesdienst selbst. Es war sogar sehr beeindruckend, einen G’ttesdienst mit so vielen Geistlichen und geübten Kirchgängern zu erleben, die nach der langen coronabedingten Durststrecke die imposante Kirche wieder mit harmonischen Gesängen füllten. Kräftig und wohlklingend. Und im Gegensatz zu so manchem G’ttesdienst bei uns Juden sogar in ein und derselben Tonart gesungen.
Wobei, das war jetzt gemein. Denn natürlich gibt es auch bei uns melodische und harmonische G’ttesdienste. Aber alles steht und fällt nun einmal mit den Betern. Und da scheint gelegentlich das Gesetz der umgekehrten Proportionalität zu gelten. Das heißt im Klartext: Je weniger Gesangstalent jemand besitzt, desto lauter singt er. Und wenn sich dieses Phänomen dann auch noch durch mehrere Mitbeter verstärkt, kann so ein G’ttesdienst auch schon mal zu einer wahren Prüfung werden. Nun bedeutet »Beten« im Judentum zwar auch Selbstprüfung, aber so war das sicher nicht gemeint.
Predigt Aber zurück zum Ernst des Lebens und unseren wohlklingenden christlichen Geschwistern. Was irritierte, war einerseits die Predigt und andererseits so manche Stimme beim anschließenden Empfang. Denn im Gegensatz zu dem, was man eigentlich hätte erwarten können, war von Zuversicht, Hoffnung oder Vertrauen – also klassisch christlichen Kernkompetenzen – nicht viel zu spüren.
Stattdessen klang vieles, als wäre der Weltuntergang schon in Sichtweite. Zwar klang natürlich auch hier und da die Hoffnung durch, dass Jesus einen irgendwann nach dem Ende des irdischen Daseins retten und erlösen werde. Doch das ist christliche Zukunftsmusik und schien kaum dabei zu helfen, die Melancholie des Augenblicks zu vertreiben.
Dabei waren die Gründe so vielfältig wie nachvollziehbar: Corona, der Ukraine-Krieg, die Klimakrise, Missbrauchsskandale, der Mitgliederschwund, der zunehmende Bedeutungsverlust der Kirche und ein angeschlagenes Selbstbild.
Oder um es mit den Worten einer anwesenden Pfarrerin zu sagen: »Bis jetzt haben wir geglaubt, dass alles beherrschbar ist. Aber irgendwie gerät nun alles aus den Fugen.« Einige Anwesende nickten bedächtig und ließen durchblicken, was sie dachten: Mit der Welt geht es ebenso bergab wie mit der Kirche.
Nun hätte es ja durchaus sein können, dass ich mit dieser Predigt und den späteren Gesprächspartnern einfach Pech hatte. Doch als ich diese Erfahrungen später mit führenden Kirchenvertretern teilte, blickte ich in wissende und betretene Mienen. Und diese sagten mehr als 1000 Worte.
Sicher: Diese Erlebnisse erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit. Sie sind bruchstückhaft. Momentaufnahmen.
Nachrichtensituation Vielleicht wurden sie durch die aktuelle Nachrichtensituation beeinflusst. Oder durch das religions- und kirchenkritische mediale Dauerfeuer. Oder durch den Frust, die eigene Botschaft nicht mehr an den Mann bringen zu können. Oder wodurch auch immer. Und dennoch waren sie irgendwie verstörend.
Doch warum kümmert es mich eigentlich? Es ist schließlich nicht meine Religion, die hier einen leisen Abgesang auf sich selbst vernehmen lässt. Warum sollte sich ein Jude über die Probleme der Kirche den Kopf zerbrechen? Als ob wir keine eigenen Probleme hätten. Und davon auch noch jede Menge!
Aber ganz so einfach ist es nicht. Denn erstens wallt bei mir immer dann Mitleid auf, wenn mein Gegenüber den Problemen unserer Zeit zu viel Gewicht verleiht. Die Welt in dunklen Farben malt, anstatt zu erkennen, dass wir trotz all der Miseren, des Leids und der Ungerechtigkeiten immer noch in der besten aller Welten leben. Und dass wir einen Aufstieg hingelegt haben, der einfach atemberaubend ist. Vielleicht würde es aber auch helfen, sich an den sprichwörtlichen jüdischen Optimisten zu halten, der glaubt, dass es nicht mehr schlimmer kommen kann.
Und zweitens ist ein vitales Christentum auch für Juden bedeutsam. Trotz der – euphemistisch ausgedrückt – ambivalenten Geschichte, die Juden und Christen verbindet. Denn am Ende des Tages betrifft die Entwicklung des Christentums natürlich auch das Judentum, also gewissermaßen das religiöse Mutterschiff. Und zwar nicht, weil wir uns zum Verwechseln ähnlich wären, sondern weil die Unterschiede in den Augen der Religionskritiker verwischen.
Will heißen: Als monotheistische Religionen sitzen wir meist im selben Boot. Ob wir wollen oder nicht. Und wenn die größte monotheistische Religion als verzichtbar oder gar schädlich betrachtet wird, dann geht es alle an. Doch das ist bei Weitem nicht alles. Vielmehr gibt es Wesentliches, das uns verbindet. Denn wir haben nicht nur ein und denselben G’tt, und das Christentum ist nicht nur die erfolgreichste Sekte des Judentums, sondern wir stehen auch auf einem gemeinsamen Wertefundament.
Will heißen: Theologisch sind wir mitunter zwar meilenweit getrennt, was klar ist, weil es sonst keine unterschiedlichen Religionen wären. Aber gleichzeitig stehen beide felsenfest auf dem Boden einer ethisch-moralischen Werteordnung biblischer Prägung. In der Theorie jedenfalls. Und im Idealfall.
Moral Doch Theorie hin, Idealfall her: Ich möchte jedenfalls nicht in einer Welt aufwachen, in der die monotheistischen Religionen keine bedeutende Rolle mehr spielen, in der die außergewöhnlichen Ideen der Hebräischen Bibel in die Rente geschickt werden, in der Moral als relatives Gut behandelt wird. In der Gemeinsinn und Zusammenhalt ihre Bedeutung verlieren. In der die individuelle Verantwortlichkeit zusammen mit der kollektiven Verantwortung abgeschafft wird. In der Sinnstiftung der Spaßgesellschaft vorbehalten bleibt.
Ich möchte nicht in einer Welt aufwachen, in der die Mächtigen ihr eigenes Recht schaffen. In der es nichts Höheres gibt als den Menschen an sich. In der Tyrannei keinen Widerspruch erfährt. In der Grenzen zusehends verwischt werden. In der Ordnung zum Chaos gerät. Und Begriffe wie Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Frieden und Freiheit von ihrem Ursprung getrennt werden und mit der Zeit ihre inspirierende Kraft verlieren.
Diese Aufzählung kann noch stundenlang fortgesetzt werden. Aber an der Grundaussage ändert sich nichts: Ohne die biblischen Ideen und Werte und ohne engagierte Botschafter wären wir nicht das, was wir heute sind. Wäre die westliche Welt nicht das, was sie heute ist. Würden wir nicht in der wohl besten Welt aller Zeiten leben.
Sicher: Sie ist nicht perfekt. Beileibe nicht. Ihre Geschichte hat viele dunkle Kapitel. Nicht wenige davon geschrieben mit jüdischem Blut. Und doch ist sie heute besser, gerechter und lebenswerter als viele andere Orte auf der Welt. Das ist natürlich nicht allein biblischen Ideen geschuldet. Aber sie haben einen wesentlichen Anteil daran.
Erwartungen Aus diesen und noch vielen anderen Gründen hoffe ich, dass die anfangs geschilderten Erfahrungen nur Ausnahmen waren, die die zuversichtliche und hoffnungsfrohe Regel bestätigen. Aber was, wenn nicht? Was, wenn die düsteren Erwartungen Wirklichkeit werden?
Dann empfiehlt es sich zu handeln, wie die Juden in dem folgenden Witz: G’tt ist der Menschheit wieder einmal überdrüssig geworden und kündigt eine zweite Sintflut an. Diese werde in zwei Wochen über die ganze Erde kommen und alles Lebende ertränken. Der Papst ruft deshalb alle Christen auf, ihre Kirchen aufzusuchen, um Erbarmen zu bitten und den Glauben an Jesus zu bekräftigen. Der Imam ruft alle Muslime auf, noch einmal nach Mekka zu pilgern und Allah um Gnade zu bitten. Und der Rabbiner erklärt den Juden: »Wir haben genau zwei Wochen Zeit, um zu lernen, wie man unter Wasser lebt!« Na, dann mal los!
Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.