Jüdisches Leben beleuchten: Daniel Neumann, der Direktor des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden in Hessen und Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Darmstadt, wirbt vor dem 9. November für neue Formate im Holocaustgedenken
Die Plünderung und Zerstörung der jüdischen Gebetshäuser in der Innenstadt geschah jedoch nicht nur unter Teilnahme staatlicher Organisationen, sondern auch unter aktiver Teilnahme der Darmstädter Bevölkerung.
Wenn Daniel Neumann, der seit 2006 Direktor des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden in Hessen ist, die 1988 eingeweihte Neue Synagoge an der Wilhelm-Glässing-Straße in Darmstadt betritt, dann wird er im Foyer immer an diese verbrecherische Tat erinnert, weil dort ein großes Modell an die Liberale Synagoge erinnert. Wer an dem Modell vorbeigeht und den Gemeindesaal betreten will, der erblickt über der Saaltür auf Hebräisch und Deutsch die Inschrift „Heilig ist uns das Gedenken an die Opfer ohne Zahl 1933–1945“. Auch an diesem Dienstag soll – coronabedingt in kleinerem Rahmen – an die Zerstörung der Darmstädter Synagogen vor 83 Jahren erinnert werden.
Neumann, der seit 2017 auch Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Darmstadt ist, spricht sich nun – wie schon Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, – am Reformationstag bei einer Rede in Wiesbaden für neue Formate im Holocaustgedenken aus. Neumann unterstützt es zum Beispiel, dass es Schülerinnen und Schüler sowie Studierenden ermöglicht wird – wie jüngst wieder in Darmstadt und im Landkreis Darmstadt-Dieburg geschehen –, Gedenkveranstaltungen auszurichten oder maßgeblich zu gestalten.
Der 48-jährige Vater von vier Kindern, dessen Vater Moritz schon bis zu seinem Tod im Juni 2016 ebenfalls Vorsitzender der Darmstädter Gemeinde und Vorsitzender des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden in Hessen gewesen war, macht sich zugleich auch keine Illusionen. Gedenk- und Erinnerungsveranstaltungen seien „keine Straßenfeger“, zu denen viele Menschen kämen. Darum sei es auch wichtig, neue Wege zu beschreiten und Impulse zu setzen.
Mit den Jüdischen Kulturwochen und einer theologischen Vortragsreihe, dem „Jüdischen Lehrhaus“, sind unter Neumann in den vergangenen Jahren in der Darmstädter Gemeinde bereits Akzente gesetzt worden.
Mit Blick auf die jährlich wiederkehrenden Gedenkveranstaltungen hält es Neumann zwar für weiterhin sehr wichtig, mit Blick auf die Shoah und den nach wie vor weitverbreiteten Antisemitismus, „Zeichen zu setzen“ und gemeinsame politische Bekenntnisse abzulegen. Es reiche aber nicht aus, den Fokus vor allem auf die „zwölf dunklen Jahre“ zu richten. Für ebenso wichtig hält es Neumann, jüdisches Leben in all seinen Facetten zu beleuchten und auch das eigene religiöse Selbstverständnis nach außen zu präsentieren.
So war es für Neumann nur konsequent, sich auch an der Koordination des Programms „100 Tage, 1700 Jahre – Jüdisches Leben in Darmstadt“ als Vertreter der Jüdischen Gemeinde zu beteiligen, das seit Anfang September läuft. Um das Programm zu gestalten, haben sich die Stadt Darmstadt, die Jüdische Gemeinde mit Kultureinrichtungen und vielen zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren zusammengetan.
Neumann sagt, es sei zwar herausfordernd und unmöglich, 1700 Jahre jüdisches Leben in 100 Tagen zu präsentieren. Schließlich gehe es darum, jüdisches Leben in Vergangenheit und Gegenwart auf deutschem und Darmstädter Boden zu beleuchten. Und die Shoa lenke auch die Aufmerksamkeit davon ab, dass Jüdinnen und Juden „einfach nur Teil der deutschen Gesellschaft sein wollen“.
In seinem Grußwort schreibt Neumann: „Wir sind Teil eines uralten Stammes, eines Volkes, einer Religion, einer Ethnie, einer Schicksalsgemeinschaft. Mal mehr, mal weniger. Es gibt uns gläubig wie atheistisch, traditionalistisch wie progressiv, links wie rechts, reich wie arm, klug wie dumm, kapitalistisch wie kommunistisch, egoistisch wie altruistisch. Wir sind liberal, konservativ oder orthodox, meistens aber paradox. Wir haben verändert, investiert, geopfert, befruchtet und beigetragen und wurden vertrieben, verachtet, missioniert, zwangskonvertiert oder vernichtet.“ Und auch wenn Juden „in jedem Fall schwer zu beschreiben und noch schwerer zu verstehen“ seien, gelte der Satz: „Aber wir sind immer noch da.“